Der Geburtstag

Beim Aufstehen ist mir kurz schwindlig so dass, ich mich noch einmal hinsetze. „Mach doch langsam!“, sage ich laut zu mir, „du hast doch ab heute Urlaub“.
Es ist 9:00 Uhr, ich fühle mich ausgeruht. Zum Glück hatte ich mal keine Alpträume heute Nacht.
In der Küche, fällt mein Blick auf die offenen Packungen Tabletten, die auf dem Tisch liegen. Jetzt erinnere ich mich, dass ich gestern nicht einschlafen konnte und ein oder zwei pflanzliche Beruhigungstabletten eingenommen habe.
Manchmal bin ich wirklich verzweifelt, ja regelrecht wütend, wenn sich mein Gedankenkarussell nicht ausschalten lässt.
Die Nacht, vor meinem Geburtstag, ist es am Schlimmsten. Den heutigen Tag zu überstehen, ist ohne Medikamente, für mich nicht möglich. Also stecke ich zur Sicherheit, noch drei Tabletten in meine Handtasche.
Das Frühstück schmeckt mir nicht. Zum Mittagessen bin ich bei meiner Mutter eingeladen.
Schreckliche Vorstellung, in drei Stunden schon wieder zu Essen.

Im Bad wird mir beim Blick in den Spiegel, trotz Brille, klar, wie schlecht ich sehe und dass ich schon längst, einen Termin beim Augenarzt machen wollte. Also schnell zum Telefon, ehe ich es wieder verschiebe.
Ich wähle die Nummer, stelle den Hörer auf laut und lasse es klingeln.
Es klingelt, klingelt, klingelt...

Meine Mutter öffnet mir mit den netten Worten, „Mensch, siehst du schlecht aus!“, „alles Liebe und Gute, zu deinem 50. Geburtstag“, die Tür. „Zum Glück hast du Urlaub, um dich richtig auszuruhen.“ „Wie schläfst du zur Zeit“? Ich winke ab und versuche ein Lächeln, das mir nicht gelingt. Das Thema erörtern wir nicht näher, wir reden über Politik und Wetter.

Das Essen ist lecker. Seit Ewigkeiten habe ich keine Hefeklöße mehr gegessen. Meine Mutter füllt sie, nachdem sie auf dem Teller halbiert wurden, mit gerösteten Speckwürfeln. Darüber gebe ich eine große Kelle Obstsoße. Die gestückelten Birnen und Pflaumen, strömen so einen intensiven Duft aus und schmecken derart gut, dass ich mich vor Glücksgefühlen, kaum retten kann. Mich überschwemmen Kindheitserinnerungen und ich breche in Tränen aus.
‘Na schöne Bescherung‘!
Ich will es meiner Mutter erklären, aber bei ihrem Gesichtsausdruck, bekomme ich einen Lachanfall. Nun müsste sie mitlachen, tut es aber nicht.
„Was ist denn?“, frage ich kauend, auf ihren entsetzten Blick hin. „Ich hatte doch nur eine sentimentale Minute!“
Sie greift nach meinem Gesicht und hält mir ihre blutigen Finger vor die Augen.
Fast verschlucke ich mich an dem Bissen, den ich noch im Mund habe, und der mir nun, im Hals stecken bleibt. Ich trinke einen Schluck Wasser, da fällt eine Träne in das Glas hinein und zieht rote Schlieren.
Als ich meine Augen abtupfe, zeigen sich die Spuren deutlich, in dem Stück bedruckten Zellstoff.
Erst jetzt, fallen mir die lustigen Frösche, auf der Serviette auf.
Meine Lieblingstiere.

Mir ist der Appetit vergangen, ich schiebe den Teller zurück.
In meinem Kopf rattert es, „tack, tack, tack“.
Alle möglichen Krankheiten spule ich wie einen Film ab. Keine kommt in Frage. Um meine Mutter zu beruhigen, erzähle ich von einer -Augenreizung- heute früh, nachdem mir etwas ins Auge gekommen sei und das Reiben danach,...usw, usw.
Am liebsten, würde sie mich ins Krankenhaus fahren, oder gleich den Rettungshubschrauber rufen.
Den Blutdruck soll ich doch wenigstens messen: 80/50 und Puls 135, der -Schock- was sonst!
Ich muss mich oben in ihrer Stube, auf das Sofa legen.
Nur für einen kurzen Moment, wünsche ich mir noch, ein oder zwei rote Tränen, um mich weiter verwöhnen zu lassen, aber mir fehlt nichts! Mir geht es richtig gut. Sogar ein wenig beschwipst, als schwebte ich und das alles ohne Alkohol, cool.

„Maxi, Maxi!“ Eine fremde Stimme ruft meinen Namen und weckt mich auf.

Durch das Fenster sehe ich wie durch schlieriges Glas. Riesige Wolkentürme in einem eisigen grau stehen am Himmel.
Wer mich gerufen hat, will ich gar nicht wissen. Mir passiert das so oft, dass ich mich schon daran gewöhnt habe.
Nur kurz, muss ich meine Gedanken sortieren, dann erinnere ich mich daran, warum ich hier in der Stube meiner Mutter, auf dem Sofa liege.
Das erste Mal seit meiner Kindheit, dass ich, wenn auch nur mittags, in meinem Elternhaus geschlafen habe.
Genau genommen, in meinem ehemaligen Kinderzimmer, im ersten Stock, unseres einhundert Jahre alten Fachwerkhauses.
Eine beunruhigende Fremde überkommt mich. Ich fühle mich wie unter einer Käseglocke, in einem geschrumpften Raum.
Ein kleines Zimmer, höchstens 10 qm, mit drei Türen. Eine führt auf den Flur, eine in das Schlafzimmer meiner Eltern und eine auf den Dachboden. Es gibt nicht viele Möglichkeiten, wo man ein Bett hinstellt und nicht viel Platz, für weitere Möbel.
Für mein Kinderbett, war nur eine Wand geeignet. Am Fußende, befand sich die Tür zum Flur und mit dem Kopf, schlief ich in Richtung Dachbodentür. Oft genug habe ich mich gefürchtet, was nachts dort herauskommen könnte. Es raschelte manchmal hinter den Tapeten, wenn Mäuse herumkrabbelten, dass der Lehm bröckelte, oder über mir, wenn Marder auf dem Dachboden fangen spielten. Für ein ängstliches Kind wie ich, war es eine große Herausforderung.
Heute steht an dieser Stelle, eine kleine Schrankwand mit Fernseher. Das Sofa mit dem Beistelltisch, befindet sich an der gegenüberliegenden Wand, wo vor langer Zeit, als ich alt genug für Verantwortung war, mein Terrarium mit Fröschen stand.

Jetzt höre ich entferntes Gemurmel und ein eigenartiges Rauschen.
Das Schlafzimmer meiner Eltern ist leer. Über den kleinen Flur geht es geradeaus, in die Stube meiner Tante und weiter in ihr Schlafzimmer. Auch diese beiden Räume sind leer. Ich steige die steile Treppe hinab ins Erdgeschoss, blicke links in die große Stube meiner Eltern, wo auch kein Mensch ist.
Seit dem Tod meines Vaters, vor einem halben Jahr, wird sie nur noch als Bügelzimmer genutzt.
Nun wende ich mich nach rechts und gehe in Richtung Küche.
Die Geräusche werden lauter, aber ehe ich hineingehe, biege ich erst noch einmal rechts, zur Toilette ab. Als ich den Deckel hochhebe, schwimmt ein kleiner grüner Frosch, in der Kloschüssel. Ich angle ihn mit der Klobürste vorsichtig heraus und setze ihn erst einmal in die Badewanne.
Erwähnte ich schon das ich Frösche mag?
Na ja, aber nicht unbedingt als Überraschungsgast, im Klo. ‘Wie mag er da nur hineingekommen sein?‘ Die Spülung funktioniert jedenfalls.
Als ich die Küche betrete, verstummt das Gemurmel. Am Tisch, sitzen meine Mutter und meine Schwester auf den Stühlen. Meine Oma, die seit 30 Jahren tot ist, sitzt auf der Eckbank. Ich glaube jedenfalls, dass sie es sind, denn eine Ähnlichkeit ist schon vorhanden. Mir kommt gleich wieder, mein dringend nötiger Besuch beim Augenarzt, in den Sinn und irgend etwas, scheint ungewöhnlich zu sein. Leider komme ich nicht darauf, was es ist.
Es herrscht eine hohe Luftfeuchtigkeit im Raum. Das Atmen fällt mir schwer und der Grund für das Rauschen, welches ich jetzt deutlich höre, scheint hinter den Wänden zu liegen. Von den Tapeten perlen Wassertropfen herunter. Sie versickern in kleinen Mooskissen, die an den Wänden kleben. Zwei Frösche hüpfen unter den Tisch und ich möchte etwas sagen, kann aber nicht sprechen.
Als ich mich zu ihnen setzten will, rücken sie nicht beiseite. So nahe bei ihnen erkenne ich, dass sie seltsam aussehen. Die Köpfe und Gesichter scheinen normal, aber die Arme sind graugrün und ihre Hände, die auf die Tischplatte trommeln, haben nur drei Glieder. Meine Schwester beginnt auf dem Stuhl hin und her zu wackeln, dann hebt sie ihren Rock bis zu den schuppigen Oberschenkeln. Zwischen ihren Beinen krabbelt ein Frosch hervor und plumpst auf den Fußboden. Auch von den Sitzen meiner Mutter und meiner Oma, fallen gleichzeitig Frösche herab. Sie landen, neben ihren dreizehigen Füßen mit Schwimmhäuten.
Einer der Frösche hüpft auf und nieder. Mir ist zum Lachen zumute, weil ich an einen Scherz glaube. Wie in Zeitlupe, hebe ich meine Schuhspitze an und trete auf den Frosch, in der Hoffnung, er würde wie ein Babyspielzeug quietschen, aber das tut er nicht. Er zerplatzt unter meinem Schuh.
Beim Anheben, ziehen sich grüne Schleimfäden von dem Häufchen Matsch, das am Boden klebt.

Den Schlag, sehe ich nicht kommen, aber er ist heftig und bringt mich zum Fallen. Ich kann mich abrollen und lande auf dem Rücken. Zum Luftholen, bleibt mir wenig Zeit. Schon tritt ein schwerer dreizehiger Fuß, auf meinen Brustkorb und meine Schwester beugt sich über mich. Aus dem nun stark aufgedunsenen Gesicht, fixieren mich zwei rote Augen und mit einem langgezogenen „Quaaaak“, öffnen sich ihre Lippen zu einem wulstig-breitem Froschmaul. In der Mitte ihrer Unterlippe, bildet sich eine Pfütze aus Speichel und Schleim, die überzulaufen droht. Mir steht vor Entsetzen der Mund offen. Ein gelber Schleimpfropfen, rinnt an einem Speichelfaden herab, den ich wie gelähmt anstarre.
Dann löst er sich mit einem Schmatzgeräusch und fällt in meinen Mund. Ich muss würgen, kann ihn aber nicht ausspucken. Um nicht zu ersticken, muss ich ihn schlucken. Ein Schauder, erfasst meinen Körper und mir wird furchtbar schlecht.
Das Gemurmel setzt wieder ein und ich erfasse einzelne Wortfetzen wie, ‘großer Topf‘ oder ‘Wasser kochen‘. Mit den Augen schiele ich zum Herd, stelle aber beruhigt fest, dass er aus ist. Die Worte: ‘Waschküche‘ und ‘Waschkessel‘, schwirren durch die Luft. Ehe mir klar ist, was sie bedeuten, werde ich an meinen Beinen gepackt und aus der Küche gezogen. Meine Hände klammern sich am Türrahmen fest, doch sie werden weggeschlagen. Sie zerren mich durch die Haustür. Die drei Treppenstufen hinab, versuche ich nicht, mit dem Kopf aufzuschlagen. Ihr Gang ist eigenartig, watschelnd. In sich zusammen gesackt, schleifen sie mich den Hof hinab.
‘Wo sind die Nachbarn‘, ‘sieht denn niemand, was hier geschieht!‘
Ich kann nicht um Hilfe schreien.

In der Waschküche ist eine unerträgliche Hitze. Dampfwolken, wirbeln aus dem alten Waschkessel. Mir steigen Schweißperlen auf die Stirn. Sie lehnen mich mit dem Rücken, an das große gemauerte Waschbecken. Endlich, kann ich etwas besser atmen. Dann setzen sie sich an den Tisch und putzen Gemüse. Die Froschproduktion beginnt wieder.
Meine Gedanken schlagen Purzelbäume. ‘Wollen die mich kochen?‘ ‘Wozu‘? ‘Essen Frösche Menschen‘!
Meine Schwester kocht gerne. Sie sammelt Kräuter, mixt Tinkturen und Salben, isst Schnecken genauso gerne, wie Froschschenkel.
Aber ich nicht!
In der Waschküche stehen Gläser, mit eingelegten Kräutern und allen möglichen Wurzeln, auf den Regalen.
Die Worte Kräuter und Hexe, kommen mir in den Sinn und ich suche die Gläser, nach ungewöhnlichen Inhalten ab.

Ob ich Frösche immer noch mag, dazu will ich mich lieber nicht äußern.
Als Kind hatte ich ein Terrarium mit Fröschen. Alle, außer mir, haben sich vor den Insassen geekelt. Es waren zwei weiße Frösche, mit roten Augen. Eine seltene Züchtung, die mir mein Onkel schenkte. Sie haben mir aus der Hand gefressen, das heißt, von der langen Pinzette, die ich ihnen, mit einem Fliegenköter oder anderem Lebendfutter, hinhielt.
Damit sie es Artgerecht hatten, war das Terrarium sehr groß. Ich besorgte von meinem Taschengeld alle wichtigen Pflanzen die sie benötigten, ein Wasserbecken, eine Befeuchtungsanlage, sowie Lampen für Wärme und Licht. Den Boden, hatte ich zur Hälfte mit feinem Kies ausgelegt und den Rest, mit Moos bedeckt. Für die Rückwand, die wie ein Dschungel aussehen sollte, verwendete ich Modelliertorf. Die passenden exotischen Pflanzen, holte ich aus der Gärtnerei. Kleine, bemooste Seile, die wie Lianen aussahen, hingen von ihnen herab. Eine kleine Hütte aus Bambus ergänzte die Anlage. Ich kümmerte mich gut um meine Haustiere, doch irgendwann, waren sie einfach verschwunden.
Eine Zeitlang, hatte ich meine Schwester im Verdacht, aber dann glaubte ich ihrer Beteuerung, dass unsere Katze, die Frösche gefressen hat.


Mein Kopf tut weh und ich habe großen Durst. In der Waschküche schwirren Fliegen herum.
Mit Grausen sehe ich, wie drei lange Zungen herum schießen und sie fangen. Ich falle in einen Dämmerzustand, doch ehe ich einschlafe fällt mir ein, was seltsam ist. Meine tote Oma ist hier!
Hoffentlich träume ich nur, mir ist so furchtbar heiß.
Da öffnet sich unter mir ein Krater, mit einem riesigen Schlund, an dessen Ende, eine Türe zu sehen ist. Im Fallen, greife ich nach den scharfkantigen Wänden, doch sie weichen zurück.
Es gibt kein Entkommen, ich lande im kochenden Wasser des Waschkessels. Die Schmerzen sind unerträglich. Sie spülen mein Bewusstsein an die Oberfläche.
Wie überaus hinterhältig, mich lebendig in kochendes Wasser zu werfen!
Meine Haut schlägt Blasen. Das werde ich mir merken!
Der Schmerz ist so plötzlich vorbei, wie er gekommen ist.
Am Rand des Waschkessels, versuche ich mich hochzuziehen. Das Einzige was sich zieht, sind meine Finger. Wie Gummibänder, dehnen sie sich, länger und länger. Als ich loslasse, schnappen sie mit einem Plop zusammen.
Vom Tisch her, ist glucksendes Lachen zu hören. Ich will vorsichtig aus dem Wasser lunzen, dabei habe ich das Gefühl, als würden meine Augen vor mir auf dem Wasser schwimmen. Genau so ist es. Dann schnellen sie zurück, in meine Augenhöhlen.
Löse ich mich etwa auf, wie ein Kloß, der zu sehr gekocht wird?
Meine Haut fühlt sich eigenartig an.
Zum Denken bleibt mir keine Zeit, denn der große Holzstab, der uns früher zum Umrühren der Wäsche diente, drückt mich unter Wasser. Der Deckel aus Blech senkt sich.
Ich spüre eine deutliche Veränderung an mir. Als wäre ich, eine kleine Gummi...Ente, die auf einem heißen Meer treibt. Vorsichtig, will ich meinen Körper abtasten, aber es gelingt mir nicht.
Da wird der Deckel angehoben und ich werde mit einem Schaumlöffel herausgefischt. Man stellt mich auf ein Abtropfsieb, neben einen Kochtopf. In seiner glänzenden Ummantlung, erkenne ich was ich bin. Ich bin keine Ente!
Ich bin - ein weißer Frosch - mit roten Augen!

Mein kleines Froschmaul wird breiter und breiter. Heraus dringt nur, ein quakendes Schluchzen. Winzige Tränen, rinnen aus meinen Augen.
‘Zumindest lebe ich noch‘! Als sich mein Herz beruhigt hat, schaue ich mich vorsichtig um.
Von hier oben, habe ich einen guten Überblick. Der Fliesenboden, ist mindestens fünf Zentimeter hoch, mit grünen Fröschen übersät. Manche zappeln noch, aber die meisten von ihnen, wurden zerquetscht. Die Lücken der Regale, sind mit eingeweckten Fröschen gefüllt.
Der Tisch ist verlassen, der Waschkessel leer gelaufen, das Feuer ist aus.

Da öffnet sich die Waschküchentür und meine Mutter hüpft herein.
„Da bist du ja, mein armer kleiner Liebling“. Mit diesen Worten setzt sie mich auf ein silbernes Tablett und mir, eine winzig kleine Krone, auf meinen Kopf.
„Beinahe hätten wir dich vergessen“. Mit ihrem schwankenden Gang, trägt sie mich über den Hof zurück in das Haus und hinauf, in den 1. Stock. Dort setzt sie mich in einen Glaskasten und verschließt ihn, mit einem Glasdeckel.
Hier hocke ich nun alleine und kämpfe gegen die aufsteigende Panik.
In meiner Not rufe ich um Hilfe. „Hilfe“, „Quak“, „Quak“, „Quaaaak“. Kein Echo, nur Stille und Einsamkeit. Vorsichtig, versuche ich mich zu bewegen. Eine kleine Drehung nach rechts, eine weitere nach links, den Kopf, kann ich sogar fast ganz nach hinten drehen, dann ein gewagter Sprung und ich hüpfe fast zehn Zentimeter weit. So hopse ich durch mein Glasgefängnis, bis ich an ein Wasserbecken komme. Dort stecke ich mein Froschärmchen in das Wasser und lutsche anschließend, meine drei Fingerchen ab. Das Wasser ist frisch und lecker. Der Boden auf dem ich hocke, ist herrlich weich und ich bin versucht, ein Nickerchen zu machen. Aber ich will zur Sicherheit erst, mein neues Heim erkunden. Ich drehe mich um und staune.
Was für ein schöner grüner Garten. Ein richtiger Dschungel! Er scheint sehr groß zu sein, doch nach nur zehn Sprüngen stoße ich an die Rückwand, die mich abfedernd, auffängt. Das Moos, hat den Aufprall gemildert. Alles scheint in Aufruhr und Bewegung. Die Farnblätter wedeln wie im Wind und die Lianen schaukeln. Im Schatten einer exotischen Pflanze, steht ein Haus aus Bambus.
Beim hinein hüpfen, reiße ich mir die Krone vom Kopf. „Nicht schlimm, wer braucht schon eine Krone“, quake ich. Beim Blick aus dem glaslosen Fenster, sehe ich ein Licht. Es scheint, als ginge draußen der Mond auf und ein kühler Sprühnebel, weht vom Wasserbecken herüber. Im Häuschen, das mir ausreichen Platz bietet, kann ich mich auf den Moosboden kuscheln und endlich ausruhen.


Unter mir zittert der Fußboden. Ein Erdbeben? Jetzt knirscht und schabt es auch noch über mir. Vorsichtig schaue ich aus der Tür.
Ich hopse aus meiner Hütte zum Wasserbecken. Auf halbem Weg, komme ich an einer aufgeklappten Holzleiter vorbei. Sie reicht ziemlich weit in die Höhe, aber nicht ganz bis zum Glasdach. Mir kommen Fluchtgedanken, da sehe ich aus dem Augenwinkel, einen Schatten vorbeihuschen. Mit einem Klong, schlägt ein Katzenschwanz an die Scheibe. Erschrocken, hüpfe ich hinter einen Busch und schaue vorsichtig durch die Zweige. Es ist nichts zu sehen und ich wage mich bis an die Scheibe heran, um nach draußen, in das Zimmer zu schauen. Da schnellt ein Katzenkopf in die Höhe und ich werde von zwei grün-gelben Augen fixiert. Im offenen Maul, stehen, um einen roten Zungengrund herum, spitze weiße Zähne. Mit einer Pfote, versucht sie nach mir zu angeln.
Meine Angst ist schnell verflogen, ich ziehe eine Fratze und möchte ihr am liebsten, mit meinen roten Augen, Löcher in den Pelz brennen.
Da geht die Zimmertür auf und herein kommen meine Eltern. Ich hätte sie fast nicht erkannt, so jung sind sie. Meine Mutter hat einen Kuchen in der Hand, auf dem Kerzen brennen. Sie scheuchen die Katze weg und treten an das Bett. Jetzt sehe ich erst, dass da jemand unter der Bettdecke liegt.
Ich zähle die Kerzen, es sind 11. Da höre ich auch schon meine Eltern singen, „die Maxi hat Geburtstag“, „trallallallalla“, „trallallallalla“. Die Decke wird weg gestupst und das Geburtstagskind kommt zum Vorschein.
Es ist komisch, sich selbst als Kind zu sehen. Maxi springt auf ihr Bett, lacht und schlingt die Arme um die Eltern. Sie holt einmal tief Luft und bläst alle Kerzen aus.
Ich werde schrecklich traurig, da kommt Maxi zum Terrarium, hebt den Deckel an und krabbelt mich am Bauch. „Guten Morgen!“ ‘Ping‘, „hast du gut geschlafen“? „Ich habe heute Geburtstag und vielleicht komme ich nachher, mit einer Überraschung zu dir, mal sehen, jetzt muss ich erst einmal frühstücken“. Die drei verlassen das Zimmer. Sie nehmen auf dem Weg nach unten, die grau-getigerte Katze mit. Ihr Name ist ‘Purzel‘. So hießen alle unsere Katzen.

Nach einer Weile, kommt Maxi zurück. In der einen Hand hält sie eine kleine Schachtel, an der Anderen, den vierjährigen Bruder, Paul. Er ist wie immer sehr still und drängt sich eng an seine Schwester. Maxi öffnet den Karton, holt einen weißen Frosch heraus, hebt den Deckel vom Terrarium an und setzt den Frosch neben mich. „Das ist ‘Pong‘ dein Freund, damit du nicht so alleine bist“. Die Zwei, setzen sich aufs Bett und beobachten uns. Ich, beobachte sie auch. Lange können sie nicht, in dem unbeheizten Zimmer bleiben.

Es ist Samstag, der 29. November, 1955. Draußen, hat es zu schneien angefangen. Es wird den ganzen Tag und die Nacht, durchschneien.
Da ‘Pong‘ und ich uns nicht bewegen, gehen die Beiden, wieder nach unten.
Ich drehe mich um und hopse zurück in die Bambushütte. Was ‘Pong‘ macht, ist mir egal. Mir ist alles egal! Ich will nicht hier sein, ob Frosch oder nicht, ich brauche keine Erinnerung und keinen Alptraum! Aber die Vergangenheit, schlägt über mir zusammen, wie eine Flut, ich kann sie nicht zurückdrängen oder aufhalten.

Maxis Geburtstagsfest ist in vollem Gange. Ihre vier besten Freundinnen, sind gekommen. Es gab leckeren Kuchen, Saft und Plätzchen. Mit ‘Mensch ärger dich nicht‘ und anderen Spielen, ging der Nachmittag schnell vorbei. Paul, durfte mitspielen. Er ist so artig und ihr einziger Bruder. Sie liebt ihn sehr. Ihre drei Jahre ältere Schwester, ist schon seit dem Mittag mit ihren Freundinnen unterwegs. Maxi ist ihr zu klein und zu kindisch. Sie ist eine eingebildete Schnipdistel, die sie gar nicht braucht.
Das Abendessen ist vorbei. Die Kinder wollen nach draußen, um einen Schneemann zu bauen. Es ist 19:30 Uhr, Paul soll ins Bett, aber er will nicht. Er möchte unbedingt mit raus. Zusammen, bitten und betteln die zwei, bis die Eltern nachgeben.
Der Schneemann ist halb fertig, da trifft Maxi der erste Schneeball. Unter großem Gebrüll, beginnt eine wilde Schneeballschlacht. Alle haben sich gegen sie verschworen und ihr fliegt der Schnee nur so um die Ohren. Aber sie schießt genauso zurück und landet einige Treffer. Alle sind außer Atem und klopfen sich lachend den Schnee von der Kleidung. Maxi schaut sich nach Paul um. Er liegt in einiger Entfernung, regungslos im Schnee. Die Haustüre geht auf und ein Schrei durchschneidet die kalte Luft. Die Mutter rennt zu Paul und dann zurück ins Haus. Der Vater ist schon auf dem Weg zu den Nachbarn, die haben ein Telefon und rufen den Krankenwagen. Inzwischen hat ihre Mutter eine Decke geholt und wickelt Paul vorsichtig ein. Er hat ganz blaue Lippen. Sein Atem steigt wie eine kleine dünne Rauchsäule, gerade in den Himmel hinauf.
Maxi schaut hinterher. Ganz zart, fühlt sie die Schneeflocken, auf ihren heißen, tränennassen Wangen, schmelzen.
„Paul“, „Paul!“ ruft ihre Mutter.


An der Decke des Kinderzimmers, flackern die blauen Lichter des Krankenwagens.
Maxi liegt weinend im Bett. Tante Inge sitzt bei ihr, versucht sie zu trösten. Sie streichelt zärtlich, über den blonden Kinderkopf.

Ich muss, vor der Glasscheibe eingeschlafen sein. Als ich erwache, ist es dunkel und still, um mich herum.
Die Leiter steht noch und der Deckel ist nicht ganz geschlossen, so dass ich beschließe, aus dem Terrarium zu fliehen.
Maxi schläft. Draußen schneit es. Da öffnet sich die Dachbodentüre und Paul, tritt in das Kinderzimmer. Er wirkt sehr blass, in seinem weißen Schlafanzug und ist, von einem leuchtenden Schimmer umhüllt.
Vorsichtig, hebt er Maxis Bettdecke an, legt sich zu ihr und schlingt seine kleinen Kinderarme um sie. Maxi stöhnt kurz auf, wird aber nicht wach.
Er flüstert ihr liebe Worte zu, die wie Paukenschläge, in mir widerhallen:
„Ich hab dich so lieb“, „du darfst nicht traurig sein“, „mir geht es gut!“
Nach einer Weile steht er auf und kommt zu mir. Er greift durch den Spalt vom Deckel und krabbelt mich am Bauch. ‘Pong‘ ist nirgends zu sehen.
„Nimm mich mit“, flehe ich ihn an. „Ich darf nicht!“, sagt er, schließt den Deckel und damit meinen Fluchtweg. Dann verschwindet er auf den Dachboden.

Draußen hat die Dämmerung begonnen. Ich hüpfe zur Bambushütte, da schleicht sich meine große Schwester ins Zimmer.
Sie hebt den Glasdeckel an, greift mich mit der Futterpinzette im Nacken und setzt mich in einen Karton. ‘Pong‘ folgt kurz darauf, dann ein Pappdeckel und schon werden wir weggetragen.
Nach wenigen Minuten, wird der Karton geöffnet und eine eisige Kälte, trifft mich wie ein Hammer. Auch ‘Pong‘ bekommt eine Froschgänsehaut, zittert und wirkt dadurch, zum ersten mal weniger lethargisch.
Ehe wir uns versehen, fliegen wir im hohen Bogen, wie Schneebälle, durch die Winterluft. Mit einem Platsch, landen wir gleichzeitig im frostigen Wasser des kleinen Baches, der nicht weit weg, neben unserem Haus fließt.
'Von wegen die Katze'!
Nun ist mir klar, wie meine Frösche verschwunden sind.
Irgendwie, muss ich verdrängt haben, das dies genau am Morgen, nach dem Tod meines Bruders geschehen ist. Wahrscheinlich, habe ich nicht einmal mitbekommen, das mein Terrarium weg war, so sehr, muss ich neben mir gestanden haben.
Ich suche ‘Pong‘. Er hockt auf einem Stein. Seine Haut ist nicht mehr weiß, sondern blau, genau wie seine Augen.
So steif gefroren wie er ist, hat er keine Kraft mehr sich zu ducken, als aus dem Schatten, der näher kommt, eine Krähe wird. Sie schnappt ihn und fliegt davon.
„Tschüss“ ‘Pong‘, denke ich und freue mich über die Stille, als mich das Wasser auf den schlammigen Grund zieht.

Jemand rüttelt mich und ruft meinen Namen.
Ich will aber nichts hören, nichts sehen, ich will...ja was will ich eigentlich.
Nur langsam komme ich zu mir, als eine fremde Stimme sagt, „da ist sie ja“. Nun muss ich wohl doch die Augen öffnen und sehe erst einmal gar nichts. Jemand setzt mir meine Brille auf und ich erkenne keinen, der zwei Personen, die um mein Bett stehen.
„Frau Jarson, sie sind im Krankenhaus“. „Wir haben sie aus dem künstlichen Koma geweckt, in das wir sie vorsorglich, nach einem Unfall, legen mussten“.
Jetzt kann ich es auch sehen, dass ich mich in einem Krankenbett befinde, mit Kabeln und Schläuchen, wie das so üblich ist.
„Was ist denn passiert?“, krächze ich mit trockenem Hals, woraufhin mir, die Schwester, etwas zu trinken reicht. „Ich kann mich an nichts erinnern, nur an wirre Träume“.
Vorsichtig, schaue ich auf meine Hand und zähle beruhigt fünf Finger.
„Sie können sich jetzt noch etwas ausruhen, wir informieren ihre Angehörigen, die ihnen alles erzählen können, Einzelheiten, besprechen wir mit ihnen dann später noch, zur Visite“. Mit diesen Worten, verlassen die Beiden mein Zimmer.
Langsam klopfen Erinnerungsfetzen an mein Gedächtnis und zwingen mich ununterbrochen Erklärungen zu suchen.
Ich mache einen kurzen Checkup.
Ich weiß wer ich bin, nun auch wo ich bin, kenne mein Alter und erinnere mich, das ich zu meiner Mutter wollte.
Mir wird heiß, als mir bewusst wird, dass dies, an meinem Geburtstag gewesen sein muss.

Jedes Jahr, erwacht an diesem Tag aufs Neue, mein Trauma, welches ich an meinem 11. Geburtstag erlebt habe und an dem, mein damals 4 jähriger Bruder Paul, gestorben ist. Dann überschwemmen mich Erinnerungen und Flashbags, die bisher auch, eine jahrelange Psychotherapie, nicht verhindern konnten.
Schon Tage zuvor, muss ich, um Schlafen zu können, Beruhigungsmittel einnehmen. Dann ziehe ich mich zurück, in mein Schneckenhaus, wie meine Schwester immer sagt.
Da ich alleine lebe, ist dies nicht schwer. Die Meisten, achten meinen Wunsch auf Ruhe, nur meine Mutter, die sich sehr sorgt, besteht in dieser Zeit, auf täglichen Telefonkontakt. Außerdem, nahm sie mir das Versprechen ab, an meinen Geburtstagen, ab Mittag, bei ihr zu sein, woran, ich mich jedes Jahr gehalten habe.
Meine Schuldgefühle kann ich nicht abstellen.
Wie mein Bruder, habe auch ich einen Gendefekt, der leider erst nach seinem Tod, festgestellt wurde. Eine Gerinnungsstörung, die zu Infarkten und Schlaganfällen führt und bei der man lebenslang, Gerinnungshemmer, einnehmen muss. Trotzdem, haben schon kleine Thrombosen, meine Sehkraft gemindert.

Es klopft an der Tür, meine Mutter kommt herein. Sie kann die Tränen nicht zurück halten. Als ich das sehe, muss ich auch weinen.
Eine Weile können wir Beide nicht reden, dann bitte ich sie, mir zu sagen, was passiert ist.
„Du bist nicht wie vereinbart, an deinem Geburtstag zu mir gekommen“, beginnt sie zu erzählen. „Als ich dich auch nach 2 Stunden, telefonisch nicht erreichen konnte, habe ich deine Nachbarin angerufen“. „Auf ihr Klingeln hin, hast du nicht reagiert und mit dem Ersatzschlüssel kam sie nicht in deine Wohnung, da dein Schlüssel von innen steckte“. „Dann ist sie um das Haus gelaufen und hat in deine Stube geschaut, wo sie sehen konnte, das du in einer Blutlache auf dem Fußboden lagst“.
„Sofort, informierte sie die Feuerwehr und den Notarzt“.
„Deine Rettung kam, in letzter Minute!“. Du bist so unglücklich gefallen, das du dir den Kopf aufgeschlagen hast und hattest viel Blut verloren“.
„Der Arzt fand in der Küche auf dem Tisch, eine halbleere Schachtel deiner Gerinnungshemmer und es waren Beruhigungsmittel in deinem Blut“.
„Natürlich ist er davon ausgegangen, das du Selbstmord begehen wolltest“.
Ich habe ihm aber gesagt, „dass du so etwas, niemals machen würdest“.
„Das stimmt doch!“, sagt sie und sieht mich eindringlich an.
„Wie fühlst du dich denn“?
„Müde“, antworte ich.
"Die schrecklichen Alpträume, in denen ich gefangen war, muss ich erst noch verdauen" und dann, mit einem Lächeln, "ich habe Paul getroffen", er sagt, „es geht ihm gut“!

@Heike Schmidt 20.01.2022