Das Schattentuch


Eine Weile versuche ich, dem seltsamen Traum nachzuspüren, der mich beunruhigt aufwachen ließ, aber er hat sorgfältig seine Spuren verwischt.

Es ist 6 Uhr. Ich stelle den Alarm des Weckers aus, öffne die Fenster, ziehe die Außenjalousien hoch, die wir zum Glück letztes Jahr angebracht haben, und atme die frische Morgenluft ein.
Die aufsteigende Sonne an einem strahlend blauen Himmel verspricht, den 15. heißen Sommertag in Folge.
An diesem Freitagmorgen, dem letzten Schultag für die Zwillinge vor den Sommerferien, ist die Luft noch angenehm kühl.
Im Flur treibt mir Kaffeeduft mit einem Gluckern der Kaffeemaschine entgegen. Nach einem kurzen Stopp im Bad, gehe ich in die Küche, wo mein Mann Toni bereits den Tisch gedeckt hat. Auch die Brotboxen der Kinder sind fertig.
Nach einem flüchtigen Kuss genießen wir unseren Kaffee und den Moment zu zweit.

Anni kommt herein. Mit ihren beinahe 3 Jahren ist sie die Jüngste unserer 3 Kinder, die Einzige, die wir noch nicht wecken müssen. Ihr feines Gehör und die empfindsamen Antennen spüren schnell, wenn sich im Haus etwas regt. Nur manchmal irren sie nachts. Dann leitet sie ein unsichtbarer Strahl wie ferngesteuert in unsere Bettritze.
Jetzt dribbelt sie, mal wieder ohne Hausschuhe, zum Tisch. Sie zieht Bodo, die große Gummischlange, hinter sich her.
Ich hasse dieses Viech. Sie wirkt so echt.
Anni klettert auf ihren Stuhl und klatscht Bodo mit Schwung auf die Tischplatte, haarscharf an der Kaffeetasse ihres Vaters vorbei. Ehe er Luft zum Schimpfen holen kann, sagt sie “Slange muss auch essen“. Da hat sie Recht.
Ich gebe ihr einen Kuss, den sie sofort wegwischt und gehe ihre Geschwister wecken. Die Zwillinge sind schon 11. Plötzlich muss ich an die mahnenden Worte meiner Eltern denken, „Wollt ihr euch das wirklich nochmal antuen, denkt doch an eure Nerven, oder wenigstens an die Kosten!“ Ja, wir wollten und gedacht haben wir nur an das Kind, das wir uns so wünschten und das uns wieder enger zusammenschweißen sollte.

Franzi krabbel ich unter dem Kinn und flüstere einen „Guten Morgen“ in ihr Ohr.
Sie räkelt sich und macht erst ihre Augen auf, als die Fenster offen und die Jalousien oben sind. Ein paar Sonnenstrahlen, die sich hier von der Nordostseite hineindrängen, streifen ihre Haare und lassen sie wie Perlmutt schimmern. Sie hat blonde Locken wie ihr Vater. Wenn das Kämmen nicht wäre, würde sie die Haare viel länger tragen. So reichen sie nur bis auf die Schultern.
Beim Hinausgehen lasse ich die Türe auf, damit spätere Rufe noch ihre Ohren erreichen.
Max hat sich wie ein Rollmops fest in seine dünne Decke gewickelt. Ich streichle seine Haare und die Wange. „Aufstehen Schatz“, sage ich.

Zurück in der Küche, hat Anni bereits ihr Brot gegessen und zwei Püffchen mit der Marmeladenseite, auf Bodos Giftzähne, die aus dem halboffenen Maul ragen, gedrückt.
Sie trinkt ihren Kakao aus, was wohl verhindert, dass die Schlange auch noch ertränkt wird.
Max und Franzi setzen sich zu uns. Ihr guter Morgen- Gruß, schlüpft schläfrig, aber synchron von ihren Lippen, die doch so oft, vor allem bei Wünschen, recht energisch sprechen können.
Beide schütten gleichzeitig ihre Cornflakes in die Schüsseln. Dann folgt die kalte Milch. Bloß keine heiße Milch, sind sie sich einig.

Wir sind, Anni mal ausgenommen, alle Morgenmuffel. Wir genießen gerne ein ruhiges Frühstück.
Die Zwillinge streiten selten und auf Anni nehmen alle gerne Rücksicht. Sie beschert uns so viele lustige Momente, dass wir ihr zu ihrem Ausdruck jeden Freiraum lassen.

Toni ruft aus dem Badezimmer und ermahnt uns zur Eile.
Die Zwillinge gehen nach oben ins Bad, um sich anzuziehen. Ich mache Anni für die Kita fertig. Pünktlich 20 vor 8 Uhr treffen sich alle in der Diele.
Bis ins Stadtzentrum, sind es nur 5 Minuten mit dem Auto. Erst die Schule, dann der Kindergarten. Seit einem Jahr ist dies der morgendliche Weg meines Mannes und wir sind froh, dass es sich unproblematisch mit seiner Arbeitsstelle einrichten ließ. Jetzt kommt Leben in die Kinderbande. Die Großen freuen sich auf ihre Zeugnisse, deren gute Noten wir schon vorab am Elternabend erfahren haben.
Anni trägt ihren kleinen Rucksack selbst zum Auto. Selbst - ist eines ihrer Lieblingsworte, seit sie sprechen kann. Ich schnalle sie im Kindersitz fest und drücke ihr, mit den üblichen Worten, „viel Spaß mein Liebling“, einen Kuss auf die Stirn. Ein wenig bin ich überrascht, als sie ihn nicht wegwischt, aber sie ist mit ihrem Teddy beschäftigt, dem sie voller Überzeugung erzählt, dass sie bald in die Schule geht, er aber in den Kindergarten muss. „Da ist es auch schön“, höre ich sie sagen und schließe die Autotür.
Mit den Zwillingen regel ich noch kurz den Ablauf vom Nachmittag. Heute ist gleich nach der Schule schwimmen angesagt. Seit diesem Sommer dürfen sie mit ihren Fahrrädern die 3 km zum Schwimmbad in das Nachbardorf fahren. Beide haben das Schwimmabzeichen in Silber. Vielleicht würde ich mit Anni später noch dazu kommen, behalte es aber für mich, falls Anni wieder nicht in der Kita schlafen konnte und quengelt. Es gibt ja auch noch einen kleinen Kinderpool im Garten.
Nach meiner einseitigen Umarmung und einem genervten, „ach Mama" von Max, nehmen die Großen auf den Rücksitzen Platz.
Toni soll den Erzieherinnen ausrichten, dass ich Anni um 15:30 Uhr abhole, dann einen Kuss durch das Autofenster, der obligatorische „gute Fahrt und schönen Tag“ Spruch, mit einmaligem Winken.

Ehe ich wieder ins Haus gehe, schlage ich noch den Blütenstaub von der Matte, die als Schmutzfang vor der Haustüre liegt.
In der Küche schaut mich die verklebte Schlange giftig an. Der Abwaschlappen hilft mir beim Transport in die Spülmaschine. Großzügig schaue ich über die Brotreste hinweg, die mit ihr hinein wandern. Die restlichen Spuren des Frühstücks sind schnell beseitigt. Ich gehe nach oben, um die Schlafzimmer aufzuräumen, setze mich auf mein Bett und genieße die Stille im Haus.
Sirenenalarm aus der Ferne lässt mich an das Fenster treten und Richtung Stadt schauen. Kein Hindernis versperrt den Blick über das flache Land, so dass ich die Spitzen der Hochhäuser sehe.
Seit Jahren schlängelt sich die Stadt näher und näher heran, verschlingt Felder und Wiesen, speit Häuser und Straßen als neue Vororte aus, überrollt kleine Dörfer und macht ihre Einwohner zu Städtern.
Etwa 3 km von unserem Dorf entfernt, stehen die letzten Gebäude der Stadt, das Marien-Krankenhaus und drei Seniorenheime. Ein Nachteil, der sich jedoch für die Dorfbewohner im Notfall schnell ausgleicht.Von dort trägt der nun schon warme Sonnenwind Sirenen bis in unsere kleine Oase. Krankentransporte und Hubschrauberflüge hört man bei Westwind besonders laut.
Bei jedem Alarm zieht es in meinen Bauch. Ich kann mich nicht daran gewöhnen.
Trotzdem lehne ich mich auf die warmen Betten, die im Fenster zum Lüften hängen und schaue wie Frau Holle in die Welt hinaus. Ich finde, sie hat es sehr gut, nur Essen kochen und Betten aufschütteln, wenn sie keine Schülerinnen hat, dazu besitzt sie Zauberkräfte, die noch einiges für sie leichter machen.

Eigentlich wäre ich jetzt auf dem Weg zu meiner Arbeit ins Reisebüro, habe aber letzten Samstag gearbeitet und nun ein verlängertes Wochenende.
Sechs Stunden Arbeit reichen mir völlig. Es kommen ja noch Haus, Kinder und Garten dazu. Da bleibt für mich nicht mehr viel Zeit übrig.
Ich muss an die meckernden Kunden denken, die immer mehr Leistung für weniger Geld wollen. Am schlimmsten sind die kinderlosen Paare. Einige kenne ich von hier, andere kommen aus der Stadt. Wenn sie wüssten, was sie mit Kindern, besonders in der Ferienzeit, auf die sie angewiesen wären, bezahlen müssten, hätten sie erst recht keine Kinder.
Nein-ich will jetzt nicht gerecht sein und sagen, es sind nicht alle so, ich will mich jetzt aufregen. Am meisten ärgert es mich, wenn sie ihre <Schönurlaubsgesichter> fallen lassen und beim Hinausgehen betonen, dass sie über das Internet sowieso günstiger buchen können. Da soll man noch mit Freude an die Arbeit gehen.

Mein Blick schweift links von dem nahen Wäldchen in unseren kleinen Garten. Nur ein Essigbaum passt hinein, daneben ein Beet mit Kräutern, eine Blumenrabatte, verschiedene Ziersträucher und einen, durch die Sonne verbrannten, strohgelben Rasen. Der Baum versucht Jahr für Jahr sein Glück mit neuen Trieben, aber wir reisen sie aus. Die Wasserknappheit verbietet das Gießen, aber für den kleinen Pool zapfen wir es ab.

Ich lege die Zudecken auf die Fußenden der Betten, schließe mit den Fenstern Geräusche und Hitze aus und mit den Jalousien die Helligkeit. Ein letzter Sonnenstrahl erwischt noch knapp meine Augen. Tanzende Punkte lassen mich die Augenlider schließen. Ich kneife sie noch fester zusammen, bis goldene und rote Sterne blitzen. Die flimmernden Muster erinnern mich an Bilder vom Universum, die Milchstraße und verglühende Sterne. Ich lockere den Druck, warte, bis ich wieder klar sehen kann.

Es klingelt an der Tür.
Erwin, mein Nachbar steht draußen. „Ist etwas mit Gisela“, frage ich erschrocken, als ich die Verzweiflung in seinem Gesicht sehe? „Kannst du mir helfen sie ins Bett zu legen, sie hat sich mal wieder mit Absicht rausrutschen lassen“, sagt er.
Meinen Haustürschlüssel in der Tasche, überqueren wir die kleine, wenig befahrene Nebenstraße. Es sind nur 50 Meter Gehweg.
Gisela liegt still vor ihrem niedrig gestellten Pflegebett. Erwin stellt das Kopfteil gerade, dann heben wir sie auf ihr Bett. Sie stöhnt und flüstert: „Lasst mich doch sterben, ich will zu Gitti“.
Ja Gott, denke ich, lass sie sterben, lass sie doch endlich sterben.
Mein Blick fällt auf die Familienbilder, die in Sichtweite für Gisela an der Wand hängen. Ein Bild von ihrer Hochzeit, die schon 52 Jahre zurückliegt und zwei strahlende junge Menschen zeigt. Ein anderes Bild von Gisela mit ihrer 2-jährigen Tochter Brigitte auf dem Arm, daneben etwas Abseits, Erwin vor ihrem Gartenhaus. Mehrere Bilder von Verwandten, die ich nicht kenne. Brigitte mit Schultüte, mit Diplom, Brigitte stolz vor ihrem Auto.
Gleich die erste Fahrt mit dem neuen Wagen riss sie aus dem Leben. Ein Traktor von einem Feldweg kommend, nahm ihr die Vorfahrt und den Eltern ihr einziges Kind. Beide waren schon fast 70 und über ihren Verlust wurden sie krank.
Gisela bekam Krebs und 6 Jahre später wurde sie ein Pflegefall. Seitdem betreut Erwin seine Frau.
Sie leiden an Depressionen und nur die Pflege seiner Frau verhindert wohl, dass Erwin in völliger Verzweiflung erstarrt. Vielleicht versteckt er sich auch nur hinter diesem jammernd Elend, weil er nicht weiß, was er sonst machen soll. Ich hätte schon längst aufgegeben. Mittlerweile benötigt sie mehrmals am Tag Hilfe durch einen Pflegedienst.
Giselas Blick ist leer, sie erkennt niemanden mehr. Die starken Opioide lindern die körperlichen Schmerzen, bei den seelischen Schmerzen bin ich mir nicht sicher.
Zum Glück, denke ich, sind die Zeiten vorbei, als man vor der Suchtgefahr zurückschreckte und lieber die Patienten ihren Verstand durch unerträgliche Schmerzen verlieren ließ.
Mein Großvater ist so gestorben und meine Oma schilderte mir alle schlimmen Details. Sie war sehr einsam. Pflegedienste gab es noch nicht. Meine Mutter und mein Onkel versteckten sich hinter den Pflichten für ihre eigenen Familien und hinter ihrer Berufstätigkeit.

Erwin begleitet mich hinaus. Er bittet um ein kurzes Gespräch, wofür wir uns auf die Bank neben der Haustüre setzen. „Kannst du Gisela nicht helfen“, fragt er mich, „kennst du jemanden der ein Ende machen könnte“? „Sie wünscht es sich so sehr und ihren Zustand siehst du ja. Ich schüttele meinen Kopf. Es ist nicht das erste Gespräch dieser Art und er kennt meine Meinung und die Gesetzeslage. „Nein“ sage ich, „ich kenne niemanden". "Spreche doch mal mit dem Arzt“, versuche ich ihn zu beruhigen. „Gisela“ sagt er leise, wird 82 und ich bald 85, das Leiden reicht mir. „Ich will sie ja nicht allein gehen lassen. Auch das habe ich schon mehrfach gehört und versucht, gute Gründe fürs Weiterleben zu erfinden. Ich streichle seine Hand, „es dauert bestimmt nicht mehr lange, bis Gott sein Auge auf Gisela richtet“, antworte ich. Er schaut mich an, als wäre ich eine Fremde, als würde ich nicht seit Jahren dreimal die Woche nach ihm und seiner Frau sehen. Als wollte ich es nicht verstehen. „Entschuldige“ sage ich, „das ist ein blöder Spruch.”
Wieso sage ich so etwas?
Ich glaube nicht an Gott und doch erwähne ich ihn wie selbstverständlich.
Ich schäme mich.
„Schon gut“, sagt Erwin, „es ist nicht fair von mir, dich um so etwas zu bitten“.

Mein Blick schweift durch den schönen Garten mit seinen großen, alten Bäumen. Am Rand eines kleinen Bachs, der sich hinter dem Gartenzaun entlang schlängelt, stehen Erlen, Birken, Buchen und 2 Tannen. Sie bilden ein kleines Wäldchen. Etwas abseits Richtung Gartentor steht ein Walnussbaum, dessen Früchte alle Nachbarn im Herbst ernten dürfen. Neben zwei Linden weit hinten im Garten wartet das Imkerhäuschen vergebens auf seinen Besitzer, da kann sein Holz knacken und ächzen, so viel es will. Erwin hat für Renovierung oder Neubau keine Kraft mehr. Daneben hocken noch ein paar verwitterte Bienenkästen. Auch sie haben sich den Gegebenheiten angepasst, verfallen und sterben langsam wie alles hier. Nicht einmal Hornissen oder Wespen haben Interesse an ihnen. Die Imkerei war die große Leidenschaft von Erwin, eine kleine Zusatzeinnahme sowie für alle im Dorf ein Gewinn.
Täglich streift er durch den Garten mit einer Sehnsucht in den Augen, die kaum auszuhalten ist, wenn man seinen Blick einfängt. Es liegt darin ein Wunsch nach Vergangenem und Zukünftigem wobei man nicht weiß, was mehr Gewicht hat.

Eine alte Buche steht in unserer Nähe. Sie hat ihre mächtige Krone wie ein großes Schattentuch über die Bank und dieses Haus geworfen, unter dem sich die Traurigkeit eingenistet hat.
„Wenn man wieder etwas spüren will, braucht man nur seinen nackten Fuß aus dem Schatten in die Sonne zu stellen“, sagt Erwin. „Für Gisela und mich ist es zu spät. Wir haben zu tiefe Narben.
Was ist mit dir, Manu, geht es dir gut?
Du bist so still. Bist du glücklich?
Es geht schon, antworte ich und bin froh, dass die Post vorfährt. Ich nutze die Gelegenheit, verabschiede mich mit den Worten, „rufe mich, wenn du Hilfe brauchst“, und wünsche mir doch sehnlichst, dass er es nicht tut.
Ich fühle mich so kraftlos, müde, gereizt und traurig. Zurück im Haus schließe ich die restlichen Fenster und verdunkle sie. Es ist angenehm kühl.

Jetzt habe ich endlich Zeit für mich. Nun gilt es zu entscheiden, ob ich lese oder nachdenke. Das Buch siegt - erst einmal. Doch schon nach ein paar Seiten schweifen meine Gedanken ab. Ich lese und denke gleichzeitig an etwas anderes. Den Inhalt der Seite könnte ich nicht wiedergeben. „Haben unsere Eltern recht? Sind die Zeiten so anders als früher, wo die Familien viele Kinder hatten! Oder fehlt uns nur der Mut heutzutage, die Strapazen auf sich zu nehmen. Anstrengend ist es auf alle Fälle, das steht außer Frage. Sind wir schwächer als unsere Vorfahren, die neben der Kindererziehung viel härter arbeiten mussten. Sind wir empfindlicher, fauler, mehr auf eigene Bedürfnisse orientiert, besonders auf Ruhe, Stille……angewiesen!

Es klingelt. Erschrocken stelle ich fest, dass ich eingeschlafen bin. Es ist 12 Uhr. Ich öffne die Tür, rechne fest mit Erwin, aber keiner ist da. Nur die Mittagshitze schlägt mir entgegen. Ich gehe noch die Treppe hinab, nirgends ist jemand zu sehen. Scherzkekse, denke ich. Als ich in den dunklen, kühlen Flur zurück gehe, huscht ein starker Blütenduft mit hinein.
Mich fröstelt, dass ich meine Arme reiben muss.
Noch 2 Stunden Zeit bis die Zwillinge von der Schule kommen. Ich versuche weiterzulesen, merke aber, dass es keinen Zweck hat.
Ein Urlaubskatalog schenkt mir schöne Bilder und Erinnerungen an unseren Urlaub letztes Jahr, als Anni das erste Mal geflogen ist. Bereits nach 10 min Flug fand sie, dass es nun Zeit zum Aussteigen wäre. Wir waren so glücklich.
Samstag habe ich für die 2. Und 3. Ferienwoche, 14 Tage Griechenland gebucht. Die ersten beiden Wochen gehen Max und Franzi in die Ferienspiele. Nach unserer Reise fahren sie zu meinen Eltern an die Ostsee. Wenn wir sie Donnerstag abholen, bleiben wir noch drei Tage, damit Anni Zeit mit den Großeltern verbringen kann.

Es klingelt, ich beeile mich, um nicht wieder den Besucher zu verpassen.
Die drei Personen erschrecken, als ich die Haustüre schwungvoll öffne und „erwischt“ rufe. Wieder schwebt dieser Blütenduft herein, den ich nicht zuordnen kann. Zwei Polizisten und eine Frau stehen vor mir, als hätte ich etwas verbrochen. Ein Krankenwagen hält an der Straße. Mein Arm zeigt Richtung Nachbarhaus, „die Reiners wohnen dort drüben, Hausnummer 11“. „Du meine Güte so beeilen sie sich doch, Gisela geht es bestimmt sehr schlecht, wenn ihr Mann den Notruf wählt“, sage ich aufgebracht, über die Unfähigkeit dieser Leute.

„Sind sie Frau Manuela Starke“, fragt mich die Frau und stellt sich als Kommissarin vor. „Wir müssen mit ihnen reden, können wir ins Haus gehen!
Ich bin verwirrt, gehe in die Stube und setze mich an den Tisch. Die Drei setzen sich zu mir und schweigen.
Die Polizisten schauen verlegen auf ihre Hände, die Frau hält mit Mühe meinem Blick stand. Mir beginnt es in den Ohren zu rauschen als sie sagt, „wir sind nicht wegen ihren Nachbarn hier“. „Ich verstehe nicht“, antworte ich, in dem Moment kommt Erwin in die Stube. Mit verzerrtem Gesicht und ausgestreckten Armen kann er nur noch ----„Manu“----- rufen, dann bricht er weinend zusammen. Ich springe auf, laufe zu ihm und sage zu den Beamten, „was haben sie getan“.

Einer der Polizisten stützt Erwin. Er führt ihn hinaus zum Krankenwagen, die Frau schiebt mich zurück zum Stuhl, als könnte sie bestimmen, ob ich sitzen möchte. Ich schüttele ihre Hände ab, aber es scheint sie nicht zu kränken. Ich habe große Lust, ihr ins Gesicht zu schlagen. Der Polizist kommt zurück und berichtet, dass es Erwin und Gisela gut geht, dann setzt er sich neben seinen Kollegen. Ich schaue in die Runde und wundere mich, dass sich niemand freut, wenn es den zwei alten Menschen wieder besser geht. Die seltsame Stimmung lastet auf meinen Schultern wie ein Sack Zement. Ich reibe meine Hände, die taub werden und kribbeln, dann schüttele ich sie wild, um wieder Leben hineinzubringen. Die Frau macht ihren Mund auf und zu, als würde sie sprechen, aber ich verstehe sie nicht, ich schaue nur auf ihre schönen Lippen, die sich, wie ich mir vorstelle, wunderbar für Lippenstift Werbung eignen würden.

Als ich wieder aufwache, liege ich auf dem Sofa. Der ältere Polizist sitzt auf einem Stuhl dicht neben mir und hält meine rechte Hand. Mein linker Arm ist kühl, weil eine Infusion hineinläuft. Man hat mich zugedeckt und mir ein feuchtes Handtuch auf die Stirn gelegt. Ein Arzt beugt sich über mich, zeigt mir eine Spritze und erklärt, es wäre etwas zur Beruhigung.
Die Kommissarin sitzt noch am Tisch. Sie hält ihre Hände vors Gesicht. Was hat sie nur Schlimmes gesehen, frage ich mich.

Ein Streicheln meiner rechten Hand lässt mich den Polizisten ansehen. Während das Beruhigungsmittel langsam in meinen Arm fließt, streift sein trauriger Blick über mein Gesicht. Das Wort „Alle“ erreicht mich noch, bevor ich unter das Schattentuch flüchte.

© Heike Schmidt
Juli