Die Zwischenwelten der Frau B.

Lieber M.,
ich hangle mich durch die Tage, Wochen, Jahre und rase auf das Ende zu. Wieso bin ich so unzufrieden? Meine Feigheit, der fehlende Mut etwas zu verändern, beschleunigen meinen Verfall. Nichts bleibt von mir zurück, nichts als ein paar flüchtige Gedanken. Ach die! Wer war, das noch? Niemand! Gutes Kind, gutes Mädchen gute Frau. Hab ich gelebt?

Ich kann kaum noch meine Worte lesen, die ich dir nun endlich geschrieben habe.
Alles verschwimmt vor Müdigkeit, aber wenn ich die Augen zumache, rennen
die Gedanken dahinter einen Marathon.

Was, wenn ich mit dem Pulk von Buchstaben mitlaufe.
Wie soll das gehen, im eigenen Kopf rennen? In der Masse der Gedanken.
Ein kleines Nichts, dem nach wenigen Metern die Puste ausgeht.
Ich muss Luft schöpfen, lehne mich an meine Augen und schaue träumend hinaus.
Es wundert mich, dass so etwas möglich ist, aber es wird nicht besser dadurch.
Nichts hilft. Alle Worte rennen durcheinander, einmal um das andere mal an meiner,
Nasenwurzel vorbei und auch an mir. Es ist wieder typisch, dass ich selbst bei so einer kurzen Strecke das Schlusslicht bin. Vielleicht sollte ich einfach das Licht ausmachen, dann stürzen alle übereinander, verwickeln und verhaken sich und werden zu einer Suppe. In der kann ich dann mitschwimmen, ohne große Anstrengung, im Dunkeln an jedem Knochen stoßend, „aua“.

Ich habe Durst und müsste unbedingt trinken und auch zur Toilette.
Die Augen kann ich kaum aufhalten, aber ich habe Angst, es mit Schlafen zu versuchen. Dann erwacht mein Geist, dieses Ungeheuer, das mich mit sinnlosem Zeug quält.

Keine Ordnung bei den Läufern, Z rennt vor B und C mit X. Y ist auch schon ganz schlecht
und muss sich gleich übergeben, weil er nicht getrunken hat. Aber bitte nicht in meinen Kopf, wenn es geht. Wo bin ich? Ich kann mich in der Masse nicht finden. Wegen der kleinen Strecke kann das Feld nicht aufreißen und alle stolpern übereinander.
Der Run wird langsamer, Stau, Stop, Durst.

Ich muss eingeschlafen sein, dabei wollte ich über so vieles nachdenken aber
Zuerst muss ich trinken und trinken!

Das Licht lässt sich nicht einschalten, Stromausfall? Ich probiere es noch einmal.
Da wird mir klar, es ist mal wieder soweit! Irgendetwas liegt neben mir und ich kann mich nicht bewegen. Mein Herz rast und mein Magen krampft vor Angst zusammen.
Ich zwinge mich zu denken, wiederhole ständig, „es passiert dir nichts, du träumst nur“.
Nach einer gefühlten Ewigkeit schaffe ich es endlich, mich auf die rechte Seite zu drehen.
Neben mir liegt ein etwa zwölfjähriges Mädchen mit blonden, geflochtenen Zöpfen.
Ich frage sie: „Was willst du von mir?“ Sie antwortet, „eigentlich wollte ich dich mitnehmen, aber ich darf nicht“. „Wohin frage ich, ins Paradies?“ Sie sagt, „ja“.

Dann wache ich auf und versuche mich an ein Mädchen zu erinnern, das ich vielleicht kenne, oder irgendeine logische Erklärung für die Traumprojektion zu finden. Aber mir fällt nichts ein und ich bin froh, dass es dieses Mal so friedlich war.
Bei früherer nächtlicher Schlafstarre waren die Gestalten bedrohlich.
Einmal fuhr, nachdem ich es geschafft hatte, mich umzudrehen, ein Arm in die Höhe und ich konnte gerade noch zufassen und verhindern, dass er auf mich schlägt.
Ein anderes Mal saß jemand auf meinem Brustkorb und wollte mich ersticken.

Der Traum hat mich lange beschäftigt. Ich habe es einer Freundin erzählt, aber sie belächelt mich nur. Wie soll das auch jemand verstehen! Ich könnte auch gerne darauf verzichten. Mittlerweile ist es so schlimm, dass ich Angst habe, einzuschlafen. Dann zwinge ich mich so lange wach zu bleiben, bis es nicht mehr geht, oder ich lasse das Licht an. Irgendwann schlafe ich dann doch ein, bin aber nach zwei Stunden wach und das Spiel beginnt von vorne.

Du siehst, ich bin ziemlich gebeutelt zur Zeit.
Ich komme nicht zur Ruhe. Immer denken, denken, denken, wie ein kupferfarbener, saugender Tornado, der sich mir schon beim Blick an die Zimmerdecke, zwischen Wachen und Schlafen offenbarte und in dem ich mich hätte verlieren können. Das kann man schon als verrückt bezeichnen. Zum Glück bin ich eine Spezialistin im Verdrängen und hoffe, es geht mit der Zeit selbst vorbei.


Liebe Grüße, B.


© Heike Schmidt
2017