Heilige Nacht

Die Sektflasche in der Hand greift Sie nach dem Telefon, das klingelt.
19 Uhr, Heiligabend, ein Weihnachten das Sie nie mehr vergessen wird.
Gerade wollte Sie mit ihrer Schwiegertochter anstoßen, da hört Sie die Stimme ihres jüngsten Sohnes, „Mama deine Schwester ist umgefallen, komm schnell“.

Die 4 km muss ihr Mann fahren, Sie ist nicht in der Lage dazu. Kurz vor dem Ziel an einer Abzweigung steht ihr Sohn, „ich weise den Krankenwagen ein“. Im großen Hof stehen zwei Autos, die Eltern sind da und schauen fassungslos auf ihre Tochter die ganz still auf dem Zimmerboden liegt, den Oberkörper gestützt, in den Armen ihres Freundes und mit Erbrochenem auf der Kleidung.
Alle sind starr vor Schreck, da kommt der Krankenwagen. Schon eilen Sanitäter und Arzt herbei und fragen was geschehen ist.
„Hm, einfach umgefallen, erbrochen, reagiert nicht, aber die rechte Hand zuckt ab und zu“, wiederholt der Arzt Wort für Wort.
Sie prüfen die Vitalfunktionen dann wird sie mit der Trage in das Auto geschoben. „Verdacht auf Schlaganfall oder“! Mehr erfahren sie nicht die Autotüre wird zugezogen. Die Mutter fängt an zu weinen, „mit 46 Jahren?“ fragt sie und schaut ihre andere Tochter an. Die hebt die Schultern und denkt, wohl eher eine Gehirnblutung. Sie sieht die vielen, manchmal noch jüngeren Patienten vor sich, die sie in der Reha betreut hat und greift nach dem Arm ihres Sohnes.
Es dauert etwas, bis der Krankenwagen wegfährt, man intubiert erst und legt einen Zugang für die Infusion.
Das Blaulicht schafft eine unwirkliche Szenerie und leuchtet über den wenigen Schnee in dieser kalten Nacht. Dann fahren sie weg. Die Familie folgt kurz darauf. Erst mussten noch die nötigsten Sachen gepackt werden.

Was wird sie im Krankenhaus erwarten und was können sie an einem solchen Tag erhoffen, an dem doch mit Notbesetzung gearbeitet wird!
Aber sie täuschen sich, der Chefarzt der Neurologie ist im Dienst und hat ein gutes Team zur Seite.
Die Blutung ist groß, bis in den Stirnlappen hinein, es wird dauern. „Wir sollen zu Hause warten“, sagt Sie, ‚man ruft uns an‘.
Die Eltern können nicht alleine bleiben und so fahren alle mit ihnen nach Hause.
Am vollen Küchentisch herrscht stundenlang Schweigen, man hört nur das Ticken der Uhr. Was sollen sie auch sagen mitten in diesem Alptraum!
Da klingelt das Telefon. Sie nimmt ab, ‚ja OP gut verlaufen‘, wiederholt Sie mechanisch, „künstliches Koma damit das Gehirn sich erholt, wie lange kann man nicht sagen auch nicht wie sich alles entwickelt oder endet, ‚erst morgen Nachmittag zu Besuch kommen‘. Sie legt auf und drückt die Eltern.
Ihrer Schwester steht ein langer Heilungsprozess bevor. Niemand kann sagen, was für ein Gesundheitsschaden zurückbleibt und trotzdem wird Sie die Hoffnung nicht verlieren, in dieser heiligen Nacht in der Sie noch keine einzige Träne geweint hat.

© Heike Schmidt
Mai 2015